Eine olympiareife Leistung
Die damals spektakulären Olympiabauten, die 1972 das Motto der „heiteren Spiele von München“ verkörperten, sollen jetzt zum Weltkulturerbe erklärt werden. Dass die Architekten ihre ehrgeizigen Ziele auch dank Dispersionspulvern von WACKER umsetzen konnten, ist ein wenig bekannter Teil der Geschichte.
Das olympische Dorf im Norden von München: Die städtebaulich intelligent konzipierte Anlage gehört bis heute zu den begehrten Wohngegenden der Stadt.
Olympisches Dorf München, 1-Zimmer-Apartment, 9. Obergeschoss, Wohnfläche rund 33 Quadratmeter: Anfang des Jahres war es für 195.000 Euro zu kaufen. Ein stolzer Preis für eine Wohnung, die sich – dem Namen Dorf zum Trotz – in einer der typischen und in vielen Städten eher unbeliebten Großsiedlungen der frühen 1970er-Jahre befindet. Auf den ersten Blick sieht der Besucher viel Beton in Großtafelbauweise und eine stark verdichtete Bauweise. Auf den zweiten Blick aber offenbaren sich die hohen städtebaulichen Qualitäten dieser Siedlung: „Wohnen im Olympiadorf ist Kult“, stellt der „Immobilienreport München“ fest. Rund 6.000 Menschen leben hier gut und gern, und das seit vielen Jahrzehnten – rund 90 Prozent aller Umzüge finden nur innerhalb der Siedlung statt.
Seit 1997 steht das Münchner Olympiadorf unter Denkmalschutz, genau wie das Olympiastadion, das sich mit seinem spektakulären Zeltdach in südlicher Richtung anschließt. Den Vereinen „Einwohner-Interessen-Gemeinschaft Olympisches Dorf “ und „Aktion Welterbe Olympiapark“ geht das sogar nicht weit genug: Sie möchten, dass der Olympiapark mit Stadion und Dorf – nach Ansicht der Fachzeitschrift „Bauwelt“ das „bedeutendste Bauensemble“, das die Bundesrepublik Deutschland geschaffen habe – auf die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes gesetzt wird. Ende 2017 hörte dazu der Münchner Stadtrat Experten an, die sich fast alle für eine entsprechende Bewerbung der Stadt aussprachen.
Bei den Olympiabauten, einem bundesdeutschen Prestigeprojekt, wurde hochwertiger Beton verwendet, der auch nach mehr als 40 Jahren noch gut dasteht.
München hat es besser als die meisten bisherigen Olympiastädte geschafft, sein olympisches Gelände nach den Spielen zu nutzen. Vor 50 Jahren, nachdem das Architekturbüro Behnisch & Partner gerade den Architektenwettbewerb für das Gesamtkonzept des Olympia-Ensembles gewonnen hatte, hätten das wohl die wenigsten für möglich gehalten. Skeptiker zweifelten sogar daran, dass die spektakuläre Konstruktion aus Acrylglas überhaupt realisierbar sei. „Nicht nur beim Zeltdach, sondern auch beim Beton und beim Mörtel galt es, Dinge zu bewältigen, die so noch niemand zuvor bewältigt hatte“, erinnert sich Karl-Heinz Kranz, heute 77 Jahre alt.
1968, als die ersten Erdarbeiten im späteren Olympiapark begannen, war auch für ihn persönlich ein wichtiges Jahr: Das Unternehmen Ardex, ein Hersteller von bauchemischen Produkten mit Sitz im nordrhein-westfälischen Witten, stellte den gelernten Maurer, Fliesenleger und Estrichleger-Meister an. Ardex und mit ihm Karl-Heinz Kranz spielten später beim Bau des Olympiageländes eine zwar kleine, aber trotzdem wesentliche Rolle, die in den folgenden Jahren das Spektrum der Trockenmörtelindustrie immens erweiterte.
Licht und transparent
Die kleinteiligen Reihenhäuser, die von Studenten bewohnt werden, und die Terrassenhäuser mit ihren großen Südbalkonen machen den hohen Wohnwert der Anlage aus.
Mit ihrer lichten, transparenten und im Fall des Olympiastadiums geradezu beschwingten Architektur sollten die Münchner Olympiabauten für „heitere Spiele“ stehen – so der damalige Chef des Nationalen Olympischen Komitees, Willi Daume. Die bislang einzigen Sommerspiele, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland stattfanden, wollten der Welt ein neues, freundliches und weltoffenes Gesicht präsentieren. Die Ausrichtung der Olympischen Spiele wurde damals als kollektive nationale Kraftanstrengung betrieben und von fast allen Münchnern einhellig mitgetragen.
Zu den vielen Tausend Fachleuten, die innerhalb von nicht einmal fünf Jahren das komplett neue Olympiagelände im Münchner Norden buchstäblich aus dem Boden stampften, gehörte auch Karl-Heinz Kranz. Er bekam die Aufgabe, eine tragende Betonsäule zu sanieren, in der Löcher und Risse entdeckt worden waren. Die Olympiabauleitung durfte davon nichts mitbekommen, denn sie hatte die Devise ausgegeben, dass auf der Baustelle nichts ausgebessert werden dürfe. Tatsächlich hatte sie bei einer fehlerhaften Betonwand auch schon angeordnet, diese einzureißen und neu zu errichten. „Bei der Säule standen drei Monate Verzögerung und einige Hunderttausend D-Mark auf dem Spiel“, erinnert sich Kranz.
Spachtelmasse im Gepäck
Das Farbkonzept für die Olympiabauten wurde von dem bekannten Münchner Designer Otl Aicher erarbeitet, der als Gestaltungsbeauftragter von Olympia 1972 wirkte.
Der Ardex-Fachmann wurde eingeflogen – und griff vor Ort zum zementbasierten Betonspachtel Arducret B12. Dieses Ardex- Produkt, das Kranz mitentwickelt hatte, stand erst seit wenigen Monaten zur Verfügung. Es enthielt Dispersionspulver aus Vinylacetat- Ethylen-(VAE-)Copolymer, das ebenfalls erst seit Kurzem von WACKER produziert wurde.
„Das VAE-Copolymer wirkt im Mörtel neben dem starren Zement als zweites flexibles Bindemittel“, erklärt Dr. Peter Fritze, der bei WACKER ein anwendungstechnisches Labor im Bereich Baupolymere leitet. Dadurch erhöhe es zugleich Kohäsion und Flexibilität dieses speziellen Mörtels. Zudem verringere die Polymer- Modifizierung den Wasseranspruch des Betonspachtels, was einen geringeren Schwund zur Folge habe. „Dank dieser verbesserten Eigenschaften ist der Betonspachtel in der Lage, Fehlstellen im Beton dauerhaft zu sanieren“, betont der WACKER-Chemiker.
Anfang der 70er-Jahre waren polymermodifizierte Spachtelmassen für Beton noch Neuland. Karl-Heinz Kranz machte sich dennoch ans Werk. „Luftverhältnisse und Sonne spielten mit. Trotzdem bin ich erst am Abend unten an der Stütze angekommen und war gerade am letzten Strich mit der Kelle, als es hieß: ,Weg von der Säule – die Bauleitung kommt‘“ erinnert er sich.
Die lichte und transparente Architektur der Olympiabauten, wie hier zum Beispiel in der Schwimmhalle, sollte für eine gute Atmosphäre bei den Olympischen Spielen sorgen.
Durchbruch auf der Baustelle
Polymervergüteter Zementmörtel unter dem Rasterelektronenmikroskop: Die VAE Polymere sind flächig auf dem Bild zu sehen. Sie wirken als Bindemittel und erhöhen zugleich die Flexibilität des abgebundenen Mörtels.
Ein Vertreter der Bauleitung habe sich aber nicht hinters Licht führen lassen. An seine Kollegen gewandt habe er ausgerufen: „Die haben ausgebessert. Aber schaut euch mal an, wie gut das ist – fast besser als der Beton.“ Kranz sieht in dieser Szene den Durchbruch für die Ardex- Betonspachtel auf der Olympiabaustelle.
Ein anderes Ardex-Produkt, das zum Einsatz kam, war der Fliesenkleber Ardurit X7G. Auch an seiner Entwicklung war Kranz wesentlich beteiligt. „Dieses Produkt, heute würde man es als Flexkleber bezeichnen, war hoch mit VAE-Copolymer angereichert“, berichtet Kranz.
„VAE-Copolymere wirken im Mörtel neben dem starren Zement als ein zweites, flexibles Bindemittel.“
Dr. Peter Fritze, Technical Service at Construction Polymers, WACKER POLYMERSWasser wandert aus
VAE
Vinylacetat-Ethylen-(VAE-)Dispersionen und -Dispersionspulver der Marke VINNAPAS® sind Copolymere, die durch die Emulsionspolymerisation von Vinylacetat – einem harten, polaren Monomer – und Ethylen – einem weichen, hydrophoben Monomer – hergestellt werden. Vinylacetat und Ethylen werden dazu unter kolloidaler Stabilisierung in Wasser und unter hohem Druck polymerisiert. Ethylen ist ein idealer Weichmacher für Vinylacetat und verleiht VAE-Polymeren dauerhafte Flexibilität. Vinylacetat- Ethylen benötigt daher keinen externen Weichmacher. VAE-Polymere verfügen über ausgezeichnete Filmbildungseigenschaften – es sind keine Lösemittel erforderlich. Das ermöglicht es Formulierern, wasserbasierende Produkte mit möglichst geringem VOC-Gehalt zu entwickeln und herzustellen. Zudem haften sie gut auf nicht polaren Substanzen. Die Glasübergangstemperatur variiert von +25 bis –25 Grad Celsius in Übereinstimmung mit dem Ethylengehalt.
Bis dahin wurden die Fliesen weltweit in eine mindestens 1,5 Zentimeter dicke Mörtelschicht eingelegt, die fast ausschließlich aus Zement, Sand und Wasser bestand – diese Methode wird als Dickbettverfahren bezeichnet. „Solch ein erdfeuchtes Material lässt sich allerdings nur schlecht verarbeiten und mit dem Spachtel kaum in einer dünnen Schicht aufbringen“, berichtet Dr. Fritze aus der WACKER-Anwendungstechnik. Zudem neige der Mörtel zum „Bluten“, das heißt, das enthaltene Wasser wandere an die Oberfläche des Mörtels beziehungsweise es werde vom Untergrund aufgesogen. „Insbesondere bei einer dünnen Mörtelschicht kann dies dazu führen, dass der Zement nicht ausreichend abbinden kann“, fährt Fritze fort. Nur wenn die Mörtelschicht einige Zentimeter dick sei, verbleibe darin genügend Wasser, um eine ausreichende Erhärtung des Klebe-Mörtels zu ermöglichen.
Die Dickbetttechnik war ebenso fehleranfällig wie zeitraubend. „Die VAE-Polymere ermöglichten es uns erstmals, Zementmaterialien zu Schichten zu verarbeiten, die weniger als einen halben Zentimeter dünn waren“, berichtet der ehemalige Ardex-Mitarbeiter Karl- Heinz Kranz. Sie verbesserten die Haftung der Fliesen am Untergrund und halfen, auftretende Spannungen abzubauen. Die Dünnbetttechnologie, der heutige Standard, war geboren. „Die Flächenleistung von Fliesenlegern stieg mit dieser Technologie deutlich, was angesichts steigender Arbeitslöhne ein enormer Vorteil war“, ergänzt Peter Fritze.
Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in München am 26. August 1972: Das Olympiastadium mit seinem geschwungenen Polyacrylglasdach galt damals als wegweisend.
Das Aufkommen von dichtgebrannten Feinsteinzeug-Fliesen mitsamt ihrer verringerten Porosität und der damit erhöhten Beständigkeit gegenüber Frost erforderte polymerhaltige Fliesenkleber wie den Ardurit X7G. „Mit dem Mörtel des alten Dickbettverfahrens könnte man diese Fliesen gar nicht verlegen“, erklären Fritze und Kranz unisono. Denn sie würden sich sehr schnell wieder vom Boden oder von der Wand lösen. Ohne polymervergütete Fliesenkleber sei es nicht möglich, diese Fliesen dauerhaft zu verkleben.
„Durch den Einsatz der neuen Technologie und der neuen Produkte auf der Olympiabaustelle wurde mein Name nach den Olympischen Spielen in Fachkreisen schnell bekannt“, erzählt Karl-Heinz Kranz weiter. Das war der Start in ein äußerst erfolgreiches Berufsleben: Handwerksinnungen aus ganz Deutschland fragten ihn für Vorträge an, Ardex beförderte ihn zum Technischen Leiter der Sparte Fliesen und Estrich und er absolvierte neben seiner Berufstätigkeit noch ein Studium zum Diplom-Bauingenieur. Zudem wurde er Sachverständiger – eine Tätigkeit, die er nach seinem altersbedingten Ausscheiden beim Unternehmen Ardex bis heute ausübt.
Haftung für Jahrzehnte
Die 72.800 Quadratmeter große Dachlandschaft besteht aus Seilnetzen, die an bis zu 80 Meter hohen Pylonen aufgehängt und mit Acrylglasplatten verkleidet sind.
Viele der Fliesen, die Anfang der 1970er-Jahre in den Küchen und Bädern der Wohnungen im Olympiadorf verlegt wurden, existieren dort immer noch – festgeklebt wie eh und je. Und auch die Säulen im Olympiastadion haben so manchen Ansturm überstanden: die Fußballweltmeisterschaft im Jahr 1974, jahrzehntelange Spiele des FC Bayern München und die Rolling Stones, die dort bereits sieben Mal auf der Bühne standen.