Unser System hat erkannt, dass Sie aus kommen aber die aktuelle Ländereinstellung ist. Wollen Sie dennoch Ihr Land ändern?

Silicone gegen Blackouts

Die Wirtschaftsmacht Indien wächst schneller als ihre Infrastruktur. Vor allem das Energienetz kann mit dem Wachstum kaum mithalten, wie der gigantische Stromausfall vom Sommer 2012 bewies. Verbundisolatoren, die auf Siliconen von WACKER basieren, helfen dabei das indische Stromnetz zukunftsfähig zu machen.

Mumbai
Silicone gegen Blackouts Podcast | 23.07.2014 | 8:19 Min

Der 30. Juli 2012 in Neu-Delhi: Die U-Bahnen stehen in ihren Stationen still, die Telefone sind tot und weil die Ampeln nicht mehr arbeiten, bricht der Verkehr in der indischen Hauptstadt zusammen. Als die Nacht beginnt, liegt Neu-Delhi in der Dunkelheit – wie weite Teile des indischen Subkontinents auch. Die tropische Hitze wird unerträglich, weil die Klimaanlagen versagen. Nichts geht mehr. Damals legte ein dramatischer Stromausfall Indien lahm: Die Netze kollabierten im Norden, Nordosten und Osten, in 20 von 28 Bundesstaaten – wie aufgereihte Dominosteine, die einer nach dem anderen umfallen. 650 Millionen Menschen waren von diesem größten Stromausfall der Geschichte betroffen – mehr als die Hälfte der indischen Bevölkerung.

„Unternehmen sind dann dazu verpflichtet, beispielsweise zwei Tage pro Woche keinen Strom zu nutzen, also nicht zu produzieren.“

Dr. Jens Lambrecht, Manager Global Product Development

Für Experten kam der Blackout nicht ganz überraschend. Schon länger kann das indische Stromnetz den rasant steigenden Bedarf nicht mehr decken: Allein in den elf Jahren zwischen 1999 und 2009 hat der Pro-Kopf-Stromverbrauch um rund 50 Prozent zugelegt, wie Germany Trade & Invest schreibt, die Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing der Bundesrepublik Deutschland. Das indische Wirtschaftswunder bringt die elektrische Versorgung regelmäßig an ihre Grenzen. Strom sparen ist an der Tagesordnung. „In weiten Teilen Indiens sind deshalb sogenannte ‚power holidays‘ vorgeschrieben“, erklärt Dr. Jens Lambrecht, Manager Global Product Development im Bereich Engineering Silicones bei WACKER. „Unternehmen sind dann dazu verpflichtet, beispielsweise zwei Tage pro Woche keinen Strom zu nutzen, also nicht zu produzieren.“ Die vorgeschriebenen Auszeiten lähmen das boomende Schwellenland empfindlich. Und auch für die industrielle Produktion und die Maschinen sind zusätzlich die meist nur kurzen, aber mehrfachen Stromunterbrechungen eine täglich Belastungsprobe.

200 Gigawatt Generatorleistung

1.200-Kilovolt-Isolatoren von Deccan bei Anwendungstests.

Dass die Bereitstellung elektrischer Energie bei weitem nicht reicht, macht ein Zahlenvergleich deutlich: In Indien sind derzeit etwa 200 Gigawatt an elektrischer Generatorleistung installiert. Damit stehen jedem Inder durchschnittlich 170 Watt zur Verfügung. Zum Vergleich: Jeder Deutsche kann auf die siebenfache Menge zurückgreifen. Hinzu kommt, dass 300 Millionen Inder überhaupt keinen Zugang zu elektrischer Energie besitzen. Im ländlichen Raum ist Strom purer Luxus oder wird manchmal auch illegal abgezapft. Das bringt die Netze zusätzlich aus der Balance – und macht sie umso anfälliger für Blackouts.

Die indische Regierung verfolgt ambitionierte Pläne für den Ausbau ihres Energienetzes, um die steigende Nachfrage bedienen zu können. „In den kommenden fünf bis sieben Jahren werden 100.000 Megawatt an zusätzlicher Leistung benötigt“, erklärt Vikas Jalan, Joint Managing Director bei Deccan Enterprises. Das Unternehmen mit einer mehr als 40-jährigen Geschichte im Bereich der Gummiverarbeitung entwickelt und produziert seit einigen Jahren Siliconelastomer-Verbundisolatoren für die Energieübertragung und gehört zu den Marktführern in Indien.

Weil der Strom vor allem in den Küstenregionen sowie im Nordosten und Osten des Landes produziert, die Energie aber landesweit benötigt wird, braucht der Subkontinent nicht nur neue Kraftwerke. „Auch die Energieverteilung muss entsprechend ausgebaut werden“, sagt Deccan- Geschäftsführer Jalan. Vor allem neue Höchstspannungsleitungen mit einer Spannung von 765 kV bis 1.200 kV sind gefragt. Nur damit lassen sich die benötigten Strommengen verlustarm auch über weite Strecken transportieren.

Ein Schlüsselelement für die Energieübertragung und -verteilung sind Isolatoren: Sie sind überall dort zu finden, wo elektrische Leiterseile befestigt, gehalten oder geführt werden müssen. Vor allem Silicon-Verbundisolatoren sind in Indien derzeit gefragt. Sie bestehen, vereinfacht gesagt, aus einem elektrisch isolierenden Glasfaser- Verbundstab, der von einem wetterfesten Gehäuse aus Siliconelastomeren umschlossen wird. „Die elektrischen Verbund-Bauteile mit Siliconelastomeren sind im Vergleich zu klassischen Porzellanisolatoren deutlich einfacher, schneller und langfristig kostengünstiger herzustellen“, erklärt Lambrecht. Denn das isolierende Gehäuse muss nicht wie die Keramikbauteile aufwändig gebrannt werden, sondern wird per Spritzgussverfahren aufgebracht. Dadurch lassen sich die Formteile nicht nur hochpräzise, sondern auch schnell und in der benötigten großen Stückzahl produzieren.

„In den kommenden fünf bis sieben Jahren werden 100.000 Megawatt an zusätzlicher Leistung benötigt.“

Vikas Jalan, Joint Managing Director bei Deccan Enterprises

Mit 2.000 Bar in die Form

POWERSIL®

steht für spezielle Silicone von WACKER für Anwendungen in der Mittel- und Hochspannungstechnik. POWERSIL®-Kautschuke bieten aufgrund ihrer lang anhaltenden Hydrophobie, ihrer Kriechstrom- und Lichtbogenfestigkeit sowie wegen ihrer guten UV-Beständigkeit besondere Vorteile beim Einsatz unter harten klimatischen Bedingungen, wie zum Beispiel in Küstennähe und im Wüstenklima.

„Die Spritzgießmaschinen pressen die Siliconmasse mit einem Druck von bis zu 2.000 Bar in die stählernen Formen“, erklärt Harald Schmid, Verkaufsleiter bei der Firma Klöckner DESMA Elastomertechnik GmbH. „Vor allem die Entwicklung und der Bau dieser Formen verlangt umfangreiches Produktions-Know-how. Der deutsche Spritzgießmaschinen-Hersteller Klöckner DESMA ist nun auch Marktführer in Indien. Seit vier Jahren werden auch in den indischen Werken die tonnenschweren Gussformen entwickelt und gebaut. Diese bestehen aus bis zu 400 Präzisionsbauteilen, müssen sehr exakt gearbeitet sein und auch die hohen Spritzdrücke aushalten können. Durch diese dreidimensionale Schablone erhalten die Isolatoren ihre typischen, lamellenartig angeordneten Schirme: „Sie schützen das Bauteil vor elektrischen Entladungen, die durch anhaftenden Schmutz verursacht werden können“, erklärt WACKER-Experte Lambrecht, ein ausgebildeter Hochspannungstechniker. Zudem reduziert die hydrophobe, also Wasser abweisende Silicon- Oberfläche, die Gefahr eines Überschlags, „weil sich kein elektrisch leitfähiger Wasserfilm bilden kann, wie das bei Porzellan leicht der Fall ist. Regentropfen perlen einfach ab“, berichtet Lambrecht weiter. Und anhaftende Verschmutzungen werden elektrisch nicht wirksam.

Silicone aus Kalkutta

1.200-Kilovolt-Isolatoren von Deccan im Netzbetrieb.

Bereits 1998 gründeten WACKER und sein indischer Partner Metroark das Gemeinschaftsunternehmen Wacker Metroark Chemicals Pvt. Ltd. zur Produktion und zum Vertrieb von Siliconen. Mittlerweile werden seit einiger Zeit in der Nähe von Kalkutta Silicone der Marke POWERSIL® für elektrische Bauteile hergestellt. WACKER-Experte Lambrecht war von Anfang an dabei, als der Chemiekonzern nach Indien expandierte. Und fast genauso lange währt bereits die Kooperation mit der Firma Deccan.

„Für die 1.200-Kilovolt-Teststation des Energieversorgers Power Grid Corporation of India Limited mussten wir neue, sehr lange Silicon-Verbundisolatoren konzipieren und designen“, erklärt Deccan-Chef Vikas Jalan. Denn die Länge der Isolatoren hängt direkt von der Übertragungsspannung ab – pro 100 Kilovolt ist fast ein Meter nötig. Um die elektrischen und mechanischen Parameter optimal einzustellen, wurden bei Deccan unterschiedlichste Modellrechnungen und Simulationen durchgeführt. Der komplette Prozess vom Design bis zur Auslieferung des fertigen Bauteils im Juni 2011 nahm zwei Jahre in Anspruch.

„Dank der Kooperation mit WACKER und der hohen Kompetenz des technischen Teams im Bereich der Hochspannungs-Anwendungen konnten wir die Siliconisolatoren stetig verbessern und an die Ansprüche unserer Kunden anpassen“, berichtet Jalan. Denn am Ende der Produktion steht ein fast zehn Meter langer Silicon- Verbundisolator. Die Herausforderung bei solch großen Bauteilen: „Sie können nicht mehr an einem Stück in einer Spritzgießmaschine hergestellt werden, sondern müssen stufenweise aufgebaut werden – im Stepmoulding-Verfahren“, erklärt Maschinen-Experte Schmid. Mit Erfolg: Im Februar 2012 haben die Isolator-Giganten die Tests bestanden. Damit wurden in Indien von Deccan erstmalig Isolatoren für 1.200-Kilovolt-Hochspannungsleitungen entwickelt und gebaut.

Leicht und extrem stabil

Indiens Energie in Zahlen

  • Derzeit betragen die Erzeugungskapazitäten der indischen Kraftwerke etwa 200 Gigawatt. Davon entfallen zwei Drittel auf thermische Kraftwerke – vor allem Kohle –, 20 Prozent auf Wasserkraftwerke, zwölf Prozent auf andere erneuerbare Energien und zwei Prozent auf Nuklearenergie.
  • Zwar nimmt das elektrische Versorgungsdefizit in Indien nach und nach ab. Dennoch lag es zum Ende des Finanzjahres 2011/12 bei etwa acht Prozent – in Spitzenzeiten sogar deutlich über zehn Prozent.
  • Etwa ein Drittel der produzierten elektrischen Energie geht im indischen Übertragungs- und Verteilungsnetz verloren. Das ist einer der höchsten Werte im weltweiten Vergleich.
  • Die installierte Leistung an erneuerbaren Energien hat sich zwischen 2002 und 2010 verfünffacht: von 3,5 auf 16,8 Gigawatt.

Quellen: Germany Trade & Invest, International Energy Agency)

Und Silicone bieten eine weitere Eigenschaft, die bei solchen Bauteilen besonders zum Tragen kommt: geringes Gewicht. Das fertige Bauteil wiegt nur ein Zehntel dessen, was ein klassischer Porzellanisolator auf die Waage bringt. Zudem stehen die Siliconbauteile in Sachen mechanischer Belastbarkeit ihrer Keramikkonkurrenz in nichts nach. Lambrecht: „Die Siliconisolatoren sind zwar leicht, aber extrem stabil. Sie können das Gewicht von etwa 200 Durchschnittsautos tragen.“ Zudem ist das Material sehr robust und besitzt die erforderliche Langzeitstabilität von vier Jahrzehnten. Auch gegen Vandalismus sind die Silicone besser geschützt als spröde Porzellanisolatoren, weil sie elastisch sind. Um Stromausfällen wie dem vom Sommer 2012 vorzubeugen, müsste Indien nach einer Schätzung von McKinsey bis 2017 seine elektrische Leistung von heute rund 200 auf etwa 400 Gigawatt verdoppeln – eine Mammutaufgabe. „Neue Kraftwerke müssen gebaut werden, aber auch mehrere tausend Kilometer Hochspannungsleitungen, um den Strom zu verteilen. Allein dafür werden massenhaft Siliconisolatoren benötigt – pro Strommast mindestens sechs Stück. „Weil die maximale Spannweite zwischen zwei Trägern bei 500 Metern liegt, kommt man bei einer hundert Kilometer langen Leitung in einfachster Konfiguration schon auf 1.200 Isolatoren“, rechnet Jens Lambrecht vor.

Lebenssaft der Industriegesellschaft

Und das Energienetz ist nicht nur auf Verbundisolatoren angewiesen. Zur Stromverteilung werden noch weitere Bauteile benötigt wie Kabelgarnituren, die ebenfalls auf Siliconelastomeren basieren. Doch Indiens Wirtschaft kann nur dann neue Fahrt aufnehmen, wenn das Energienetz flächendeckend und zuverlässig arbeitet. Denn Strom ist der Lebenssaft einer sich rasant modernisierenden Gesellschaft wie der indischen – ohne ihn steht auch in Indien mittlerweile die Welt still.

Ähnlich: