Eine gute Nachricht für das Klima
26.05.2020 Lesezeit: ca. MinutenMinute
Die Massenbilanz: Ein Plus an Nachhaltigkeit
WACKER bietet Silicon- und Polymerprodukte an, die vollständig aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden. Das dazu eingesetzte Rechenverfahren heißt Massenbilanzierung. Kompliziert ist diese Rechnung nur auf den ersten Blick.
Bislang stellen Chemieunternehmen die meisten ihrer Produkte aus Rohstoffen her, die ihren Ursprung in Erdgas, Kohle oder Erdöl haben. Will ein Unternehmen Produkte mit den gleichen Eigenschaften, aber auf Basis von nachwachsenden Rohstoffen verkaufen, so scheint das Rezept dafür auf der Hand zu liegen: Das Chemieunternehmen müsste neben der etablierten Produktionsanlage lediglich eine zweite, baugleiche Anlage errichten. Darin werden beispielsweise Rohstoffe wie Methanol oder Essigsäure aus Pflanzenresten zum Produkt verarbeitet – anstelle von Methanol oder Essigsäure aus petrochemischen Quellen. Die Hersteller könnten dann durch ein Label auf dem Produkt dem Endverbraucher signalisieren, dass das, was er da kauft, aus nachwachsenden Rohstoffen gewonnen wurde und somit klimaneutral ist.
Weil Vertrauen zwar gut, Kontrolle für ein solches Zertifikat aber unerlässlich ist, ließe sich in diesem Fallbeispiel mit der sogenannten 14C-Radiokarbonanalyse am Ende überprüfen, ob alle Kohlenstoffatome im Produkt aus nachwachsenden Rohstoffen stammen. Diese Analyse beruht auf dem Phänomen, dass der Anteil an 14C-Isotopen der Kohlenstoffatome in abgestorbenen Organismen, aus denen sich Erdöl und Erdgas gebildet haben, wegen des radioaktiven Zerfalls niedrig ist. Lebende Organismen nehmen dagegen ständig neuen Kohlenstoff aus der Umwelt auf, der einen höheren Anteil an 14C-Isotopen einbringt. Dieser höhere Anteil ist trotz des ständigen langsamen Zerfalls nahezu konstant, da 14C ständig in der oberen Atmosphäre neu gebildet wird.
Der Haken an diesem 14C-basierten Prüfverfahren: Bau und Betrieb einer zweiten, zumindest anfänglich nicht ausgelasteten „Ökoanlage“ sind mit erheblichen Kosten verbunden, die das „Ökoprodukt“ teurer und somit unattraktiver machen können. Solange die Nachfrage nach „grünen“ Produkten also noch nicht so hoch ist, dass sich eine separate Anlage rechnet, besteht die Alternative darin, bio- und fossilbasierte Ausgangsstoffe in der bestehenden Produktionsanlage gemeinsam zu verarbeiten (siehe Abbildung). Dabei entsteht zunächst ein – stofflich gesehen – einheitliches Produkt, in dem die Kohlenstoffatome zum Teil aus nachwachsenden und zum Teil aus fossilen Rohstoffen stammen.
Der Hersteller trennt nun dieses Produkt in zwei Anteile auf: Dem einen Teil weist er den herkömmlichen Namen und die herkömmliche Kennzeichnung zu, dem anderen Teil dagegen beispielsweise die Kennzeichnung „biobasiert“ oder einen veränderten Markennamen. So verfährt WACKER bei seinen Produktlinien BELSIL® eco und VINNAPAS® eco (ehemals VINNECO®). Die Größe des jeweiligen Anteils ist dabei alles andere als willkürlich: Er wird genau so gewählt, dass er der ursprünglich eingesetzten Menge nachwachsenden Rohstoffs entspricht. Bei WACKER überprüft das der TÜV Nord als unabhängiges Institut.
2.000 °C benötigt die Reduktion von Siliciumdioxid mit Kohle im Schmelzofen. Der eingesetzte Kohlenstoff wird kompensiert, indem mehr Biomethanol als rechnerisch nötig in die Produktion einfließt.
Kunde hat es in der Hand
Würde man die 14C-Radiokarbonmethode einsetzen, fände man zwar heraus, dass in beiden Anteilen des Produkts gleich viel biobasierte Kohlenstoffatome nachzuweisen sind. Der Kauf des Produkts, das als biobasiert ausgewiesen ist, stellt allerdings sicher, dass eine entsprechende Menge des nachwachsenden Rohstoffs in die Produktion einfließt. Das ist ähnlich wie bei den Ökostromtarifen: Wählt ein Verbraucher einen solchen Tarif, so kommt bei ihm weiterhin der regional übliche Strommix aus der Steckdose. Doch die Wahl des Tarifs führt dazu, dass der Stromanbieter eine entsprechende Menge Ökostrom einkaufen muss.
Die Massenbilanzierung umgeht auch noch ein zweites Problem: Nicht alle Ausgangsstoffe, die die chemische Industrie benötigt, sind aus nachwachsenden Quellen überhaupt verfügbar. Oder sie wären extrem teuer.
Für das Silicium in Siliconen der Marke BELSIL® eco gibt es beispielsweise kein Pendant aus nachwachsenden Rohstoffen, da Silicium nun einmal nicht auf der Wiese wächst, sondern durch die Aufarbeitung von metallischem Rohsilicium gewonnen wird. Die sogenannte Reduktion von Siliciumdioxid benötigt Kohlenstoff und findet in einem Schmelz-Reduktionsofen bei Temperaturen von etwa 2.000 Grad Celsius statt.
Das Massenbilanzverfahren bietet dem Produzenten nun die Möglichkeit, unter einer bestimmten Bedingung statt eines schwer oder nicht verfügbaren biobasierten Ausgangsstoffs weiterhin den entsprechenden Stoff aus fossiler Quelle zu verwenden. Damit kann der Hersteller die in der Siliciumproduktion eingesetzte Kohle quasi kompensieren. Die Bedingung lautet: Die Menge des fossilbasierten Ausgangsstoffs muss an anderer Stelle der Produktion mit einer entsprechenden Menge eines anderen, biobasierten Rohstoffs ausgeglichen werden. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Mengen an fossil- und biobasierten Rohstoffen gemessen in Kilogramm oder Litern gleich sein müssen. Stattdessen zählt, dass der Heizwert gleich ist, also die Wärmemenge, die nutzbar ist, wenn Stoffe verbrannt werden.
Eine nur auf den ersten Blick komplizierte Rechnung also. Letztendlich führt der Einsatz des Massenbilanzverfahrens aber dazu, dass Rohstoffe aus petrochemischen Quellen eingespart werden und sich der ökologische Fußabdruck einer Produktion verringert – und zwar umso mehr, je mehr Käufer sich für das als biobasiert ausgewiesene Produkt entscheiden. Das ist eine gute Nachricht – auch für das Klima.
Käufer des massenbilanzierten grünen Produkts, die zuvor das entsprechende konventionelle Produkt gekauft haben, müssen ihre Rezepturen und ihre weiteren Verarbeitungsverfahren nicht umstellen, schließlich sind die beiden Produkte stofflich identisch.