01.09.2022 Lesezeit: ca. MinutenMinute
75 Jahre Silicone
Ein Kunststoff für eine moderne Welt
Als erstes europäisches Unternehmen begann WACKER 1947 mit Arbeiten an Siliconen. Heute ist der Konzern der weltweit zweitgrößte Hersteller dieser hochleistungsfähigen Kunststoffe, die mittlerweile in unserer Lebenswelt allgegenwärtig sind. Ein Blick zurück auf eine Zeit, als die Zukunft Gestalt annahm – unter bescheidensten Umständen, in einer Holzbaracke in Burghausen.
Wir produzieren jetzt in diesem Ofen gut 1.000 Kilogramm [Silane] im Monat, aber bald werden es durch einen weiteren Reaktor zwei bis drei Tonnen sein.“ „Machen Sie bald 200 bis 300 Tonnen.“ So lautete Ende 1950 der Ratschlag des ehemaligen Geschäftsführers Dr. Johannes Hess, den er kurz vor seinem Tod am 3. Februar 1951 einem gewissen Dr. Siegfried Nitzsche erteilt hatte. Und Dr. Nitzsche befolgte diesen Rat, allen Unkenrufen zum Trotz – und kann deshalb mit Fug und Recht der „Vater der WACKER-Silicone“ genannt werden. Denn selbst in der Geschäftsleitung herrschte damals laut Nitzsches eigenen Erinnerungen die Ansicht: „Wenn da einmal für eine Million Mark verkauft werden kann, wollen wir froh sein.“
Nicht zuletzt dem unermüdlichen Einsatz von Dr. Nitzsche und seiner konsequenten Beharrlichkeit ist es zu verdanken, dass die Silicone bei WACKER solch bescheidene Ziele längst hinter sich gelassen haben. Heute ist WACKER SILICONES der größte Geschäftsbereich der Wacker Chemie AG mit einem Umsatz, der sich auf drei Milliarden Euro zubewegt.
Das wichtigste der im Gespräch von Dir. Hess und Dr. Nitzsche erwähnten Silane, das Dimethyldichlorsilan, ist der Stammvater von circa 2.800 silan- und siliconhaltigen Produkten bei WACKER und wird an den Produktionsstandorten Burghausen, Nünchritz und Zhangjiagang erzeugt. Auf dem weltweiten Markt für Silicone ist WACKER damit unangefochten die Nummer zwei.
Es lohnt sich, die Umstände zu beleuchten, unter denen Dr. Nitzsche 1947 im Werk Burghausen seine Arbeit an Silanen und Siliconen aufnahm: Dadurch eröffnet sich das Verständnis, wieso man bei WACKER überhaupt auf die Idee kam, sich mit diesem neuen Geschäftsfeld zu befassen, und es erklärt auch die Widerstände, auf die Dr. Nitzsche zunächst stieß.
Das Werk Burghausen zur Schaffenszeit von Dr. Nitzsche.
Alles beginnt mit einem Fehler
Auch Dr. Nitzsches Weg zu den Siliconen führte über das Dimethyldichlorsilan. Das chemische Institut in Jena, an dem er sich zu der Zeit auf seine Habilitation vorbereitete, hatte Anfang der 1940er-Jahre einen Wehrmachtsauftrag zur „Silizierung von Eisenrohren“ erhalten. Man errät unschwer, dass daraus besonders widerstandsfähige Kanonenrohre erzeugt werden sollten. Dem Laborhelfer von Dr. Nitzsche widerfuhr dabei ein Missgeschick: Wasser trat zu dem empfindlichen Dimethyldichlorsilan, es kam zur Hydrolyse und Dr. Nitzsche gelang es selbst bei 360 °C nicht, das entstandene ölige Produkt zu destillieren. Nach der Abkühlung erhielt er ein gummielastisches Produkt, das selbst bei Rotglut noch beständig war. Ohne es zu diesem Zeitpunkt zu wissen, hielt Dr. Nitzsche seinen ersten Siliconkautschuk in den Händen. Andere, weniger begabte Chemiker hätten den Vorfall abgetan und sich wieder der eigentlichen Aufgabe zugewandt. Dr. Nitzsche aber war fasziniert und hatte das Thema seiner Habilitationsarbeit gefunden: „Hitzebeständige, siliciumhaltige Kunststoffe.“
Als Dr. Siegfried Nitzsche im Frühjahr 1947 aus einem amerikanischen Internierungslager für deutsche Wissenschaftler freigelassen wurde, erhielt er eine Einladung der Gesellschaft Deutscher Chemiker. Bei deren erster Tagung nach dem Krieg in Heidelberg sollte er einen Plenarvortrag über genau dieses Thema halten. Im Publikum befanden sich zwei Herren der Wacker Chemie: Chefchemiker Dr. Wolfgang Gruber und Oberingenieur Dir. Eduard Kalb. Dr. Gruber beschreibt das Ereignis in seinen als Buch unter dem Titel „Gratwanderungen“ veröffentlichten Lebenserinnerungen.
„Hier konnte ich der Firma dadurch einen ganz großen Dienst erweisen, dass ich Dr. Siegfried Nitzsche, der einen sehr guten Vortrag über Silicone hielt, für das Werk Burghausen gewann. Schon vorher hatte ich Herrn Dir. Hess vorgeschlagen, das Silicon-Gebiet zu studieren, da die Ausgangsstoffe in unser Aufgabengebiet fallen und von uns leicht zu beschaffen wären (Kupfer-Silicium-Legierungen, Chlormethyl, eventuell Siliciumtetrachlorid). Eine Bewerbung Nitzsches bei der Firma Wacker war zwar von der Direktion München abschlägig beschieden worden, doch konnte dies leicht rückgängig gemacht werden. In wenigen Jahren stieg der Jahresumsatz an Siliconen auf viele Millionen und die Zahl der Artikel auf 100 und mehr!“
Am 2. August 1947 wurde Dr. Nitzsche bei WACKER im Werk Burghausen eingestellt und begann dort sofort mit seinen Arbeiten an den WACKER-Siliconen.
Worauf hatte sich Dr. Gruber bei den von ihm genannten Ausgangsstoffen bezogen? Das Halbmetall Silicium war 1947 bei WACKER längst ein alter Bekannter. Bereits bei der Elektrobosna, einer der Vorläufer-Firmen Alexander Wackers, hatte es ein Patent zur Herstellung von elementarem Silicium gegeben. Schon vor dem Krieg gehörten zum Portfolio von WACKER zahlreiche Legierungen zur Veredelung von Stählen, darunter auch Calciumsilicium, Ferrosilicium und Calciumaluminiumsilicium. Zwei Drittel des deutschen Bedarfs an der Legierung Ferrochrom kam in den 1930er-Jahren aus den Werken von WACKER. Man hatte also 1947 Zugang zu Silicium und konnte damit umgehen – und mit Chlorwasserstoff zur Herstellung von Chlormethan aus Methanol sowieso.
„In wenigen Jahren stieg der Jahresumsatz an Siliconen auf viele Millionen und die Zahl der Artikel auf 100 und mehr!“
Dr. Wolfgang Gruber
Von den Rohstoffen her war die Ausgangslage für Dr. Nitzsche also gar nicht schlecht. Aber sonst haperte es kurz nach Ende des Kriegs noch an allen Ecken und Enden: Personal, Geräte, ja auch der benötigte Labor- und Produktionsraum oder sogar Fachliteratur waren für Dr. Nitzsche nur sehr schwer zu bekommen. So musste er die Fortschritte der US-Industrie auf dem Gebiet der Silicone zunächst aus einem Artikel des populärwissenschaftlichen Readers Digest erfahren. Daraus ergab sich als weitere Schwierigkeit die Patentsituation: General Electric (GE) hielt die wichtigen Patente für die Silanherstellung und mit der Dow Corning Corporation (DC) hatte sich ein weiteres US-amerikanisches Unternehmen die Rechte an den wesentlichen Schritten der Weiterverarbeitung zu Siliconen gesichert.
Glücklicherweise hatten beide Firmen Interesse, mit europäischen Firmen an der Herstellung und Vermarktung von Siliconprodukten zusammenzuarbeiten. Neben WACKER schlossen sie auch noch Verträge mit Rhône-Poulenc und der Bayer AG ab. Die entscheidenden Lizenzvereinbarungen mit DC wurden 1951 unterzeichnet und die mit GE im Jahr 1953. So kam es, dass die ersten Prospekte zur Vermarktung der WACKER-eigenen Silicone 1951 parallel herausgegeben wurden mit einem Katalog, bei dem WACKER als Generalvertreter der DC-Silicone auftrat.
Im Schatten anderer Produkte
Denn Dr. Nitzsche war in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen. Allen Widrigkeiten und Widerständen zum Trotz war es ihm gelungen, eine eigene Silanproduktion zu entwickeln und aufzubauen. Als Produktionsgebäude diente dabei in Burghausen das sogenannte „Salettl“, was auf Bayerisch „Gartenhäuschen“ bedeutet. Der Fokus der Wacker Chemie lag damals ganz auf dem Ausbau der aufstrebenden PVC-Aktivitäten, mit denen der spätere Geschäftsführer Dr. Berg als Erfinder der Suspensionspolymerisation von PVC bereits in den 1930er-Jahren begonnen hatte. Der Löwenanteil des Investitionsbudgets floss also in das „Vinnol“ genannte WACKER-PVC und Dr. Nitzsche musste immer wieder hartnäckig und zäh für seinen bescheidenen Etat kämpfen.
In seiner eigenen Chronik anlässlich 25 Jahren WACKER-Silicone schreibt er: „Bis etwa 1965, als Geschäftsführer Dr. Maurer sich für die Silicone zu interessieren begann, führten die Silicone, wie es damals formuliert wurde, das Leben eines Prügelknaben.“
Dass PVC im Jahr 2000 aus der Produktpalette des Konzerns verschwand und WACKER SILICONES mittlerweile der mit Abstand umsatzstärkste Geschäftsbereich des Unternehmens ist, hätte Dr. Nitzsche sicher mit tiefer Befriedigung erfüllt. Leider verstarb dieser brillante Chemiker, dem WACKER so viel zu verdanken hat, bereits 1974 nach schwerer Krankheit im Alter von nur 59 Jahren.
„Bis etwa 1965 führten die Silicone das Leben eines Prügelknaben.“
Dr. Siegfried Nitzsche
25 Jahre stürmischer Ausbau
Für die Weiterverarbeitung der Silane konnten ab 1950 als neue, wichtige Mitarbeiter Dr. Ewald Pirson und Dr. Manfred Wick gewonnen werden. Schon 1949 standen folgende Produkte zur Verfügung: Siliconöle, Ölemulsionen, Antischaummittel, Imprägnierungsmittel, Pasten und Trennmittel. Ab 1952 kamen die ersten Siliconkautschuktypen hinzu und ab 1953 Bautenschutzmittel – Anwendungen in ihrer Grundform, wie sie auch heute noch – aber erheblich weiterentwickelter und ausgereifter – im Produktportfolio von WACKER SILICONES zu finden sind. 1959 waren bereits über 100 verschiedene Siliconprodukte in Entwicklung.
Mit der Nachfrage nach Siliconen wuchs das Werk in Burghausen. Längst war die erste Produktionsanlage zu klein geworden und abgerissen worden. In mehreren Erweiterungen wurde ab Mitte der 1960er-Jahre massiv in die Siliconproduktion investiert. Das Werk wurde im Westen und Norden erweitert und zur Verbundproduktion ausgebaut: Nichts sollte verschwendet, alles verwendet werden. So konnte WACKER bereits damals abfallarm und effizient produzieren.
Der lapidare Satz in der Werkzeitung lautete: „Am 26. Juni 1972 nahm die neue Nordfabrik die Silanproduktion auf.“ Viel spektakulärer als dieser Satz war das Ensemble selbst, das in den Folgejahren durch weitere Anlagen konsequent zum Burghauser Siloxanverbund ausgebaut werden sollte. Revolutionär für das Werk war der Ansatz einer offenen Stahlbetonkonstruktion ohne Umbauung und einer bereits in Ansätzen automatischen Steuerung über eine Messwarte.
Die damals errichteten Kolonnen der Silandestillation waren mit 51,10 Metern Höhe die höchsten ihrer Art in Burghausen. Kürzlich wurden sie nach 50 Jahren Einsatz abgelöst durch eine neue Silankolonne, die mit mehr als 70 Metern Höhe die Modelle von 1972 noch bei Weitem überragt.
Entwicklungsprodukte der ersten 25 Jahre WACKER-Silicone
1949–1954: Entwicklung elektrischer Isolierstoffe mit Siliconharzbindung
- Bau des ersten in Europa laufenden Elektromotors mit Siliconisolierung zusammen mit der Fa. Loher & Söhne, Ruhstorf
- Herstellung des ersten europäischen Trockentransformators mit Siliconisolierung zusammen mit der Fa. Siemens AG, Nürnberg
- Siliconöle als Salbengrundlage in Medizin und Kosmetik
- Textilveredelung und Imprägnierung
- Entwicklung und Prüfung von Bautenschutzmitteln
- Kabelisolationen mit Siliconkautschuk
- Siliconisolierte Hochspannungsmotoren (3.000 Volt) für die Ölfelder Venezuelas
- Antischaummittel in der Lebensmittelindustrie
1955–1957: Silicone für die Papier- und die Lederindustrie
- Kaltvulkanisierender Siliconkautschuk als Abformmaterial für künstlerische und technische Zwecke und als Einbettmaterial für elektrische Betriebsmittel
- Diffusionspumpenöle für die Hochvakuumtechnik
1958–1966: Kombinationsharze und Copolymeröle für die Lackindustrie
- Siliconpasten für die Hochspannungstechnik
- Verbesserte Trennmittel für Gummi- und Kunststoffverarbeitung
- Laminierharze und Pressmassen für Elektrotechnik und Elektronik
- Fugendichtungsmassen für das Bauwesen
- Hochtemperaturbeständige Fette für hochbeanspruchte Kugellager
- Siliconkautschukanwendungen in der Automobilindustrie
- Siliconkautschuk als Prothesenmaterial und als Depotstoff für Arzneimittel in der Medizin
- Alkaliresistente Antischaummittel
1967–1972: Verfeinerte Bautenschutzmittel und ihre Anwendung
- Mittel gegen die Ölpest
- Leitfähiger Siliconkautschuk für Flächenheizleiter
- Funktionelle Silane als Haftvermittler z. B. für die Verarbeitung von Glasgeweben und -fasern
- Schaumstabilisatoren für Polyurethanschäume
- Verfeinerte Papierbeschichtungsmittel
- Lösungsmittelfreie Gießharze für die Elektronik
- Leicht verarbeitbare Siliconkautschukgranulate
Ein Blockbuster aus Nebenprodukten
Parallel dazu war Anfang der 1970er-Jahre von Dr. Günter Kratel im Werk Kempten der WACKER-Tochter ESK ein Füllstoff entwickelt worden: Die hochdisperse Kieselsäure HDK® wird 2022 ebenfalls 50 Jahre alt. Dieses äußerst vielseitige Material findet sich in zahlreichen, völlig unterschiedlichen Anwendungen und ist unter anderem als verstärkender Füllstoff aus den Siliconkautschuken von WACKER kaum mehr wegzudenken.
Bereits 1978 wurde in Burghausen eine eigene HDK®-Anlage gebaut und in den Siliciumverbund integriert. Der Clou: HDK® wird aus Nebenprodukten der Silansynthese gewonnen und ist damit ein Bestandteil der Verbundproduktion in den Geschäftsbereichen WACKER SILICONES und WACKER POLYSILICIUM. Die „Nebenanfallsilane“ der Silansynthese werden bei über 1.000 ° C in einer Wasserstoff-Sauerstoff-Flamme verbrannt, wobei nach dem Abkühlen flockige Partikel anfallen, die die Grundstruktur von Siliciumdioxid (SiO2) aufweisen. Das ist nichts anderes als die Formel von Sand. Im Unterschied zu Sand besitzt die HDK® von WACKER aber eine extrem große Oberfläche, die ihre einzigartigen Eigenschaften bestimmt. Ein großer Sack mit HDK® wiegt gerade mal zehn Kilogramm.
Es gibt kaum eine chemische Reaktion, die zu 100 Prozent das gewünschte Zielprodukt ergibt. Daher rührt auch einer der herausragenden Vorteile des Verbundprinzips bei WACKER: Über die Jahrzehnte ist es den Chemikern und Ingenieuren gelungen, zahlreiche Nebenprodukte aus den verschiedenen Prozessen weiterzuverwerten und sie beispielsweise als Ausgangsstoffe für andere Produkte einzusetzen.
Heute ist die Nachfrage nach HDK® von WACKER so groß, dass sie nicht nur in Burghausen, sondern auch an den Standorten Nünchritz, Zhangjiagang und Charleston produziert wird. Somit ist HDK® ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie bei WACKER ein Rädchen in das andere greift. Aus einem Abfallprodukt der Siliconherstellung entsteht ein neues Verkaufsprodukt, das in unserer Lebenswelt zwar nicht sichtbar, aber dennoch omnipräsent ist.
Anwendungen für HDK®
- verstärkender Füllstoff in Kunststoffen, hydrophil oder hydrophob ausgerüstet
- Verdickungsmittel in Farben und Lacken
- isolierender Stoff in wärmedämmenden Formteilen
- Rieselhilfsmittel in z. B. Feuerlöschpulver, Tonern für Laserdrucker oder Tomatenpulver für Ketchup
- Schleifmittel bei der Planarisierung von Silicium-Wafern
- strukturviskoses Additiv in Emulsionen, Dispersionen oder Zahnpasta
WACKER-Silicone erobern die Welt
Nicht nur die Produktpalette der Silicone, auch der Kundenkreis erweiterte sich über die Jahrzehnte beständig und wurde immer internationaler. Daher war es schon Ende der 1960er-Jahre erforderlich, auch außerhalb Burghausens Produktionskapazitäten aufzubauen. Die Wacker Chemie beteiligte sich zunächst mit 33,3 Prozent an der SWS Silicones Corporation (Stauffer-Wacker Silicones) in Adrian im US-Bundesstaat Michigan und stockte diese Beteiligung sukzessive bis 1987 auf 100 Prozent auf. Der Name wurde in Wacker Silicones Corporation (WSC) geändert.
Anfang 1978 nahm zudem die Wacker Química do Brasil Ltda. in Jandira bei São Paolo Herstellung und Vertrieb von Siliconprodukten auf und mit der Gründung der Wacker Chemicals East Asia (WCEA) 1983 in Tokio, Japan, setzten die WACKER-Silicone auch zum Sprung nach Asien an. 1998 folgte als weiterer wichtiger Eckpfeiler im asiatischen Markt die Gründung des Joint Ventures Wacker Metroark Chemicals Pvt. Ltd. im indischen Kolkata.
3.000 Siliconprodukte stellt WACKER heute her. Dazu gehören Silane, Siloxane, Siliconöle, Siliconemulsionen, Siliconelastomere und Siliconharze.
Es würde den Rahmen dieses Berichts sprengen, alle weiteren Siliconstandorte von WACKER aufzuzählen, die in den folgenden Jahrzehnten weltweit noch entstanden. Herausgegriffen werden sollen aber abschließend noch zwei Vollverbundstandorte, die mit dem Werk Burghausen gemeinsam haben, dass an ihnen jeweils eine aufwändige Silananlage nach dem Müller-Rochow-Verfahren erbaut wurde.
Zum einen das bereits kurz erwähnte Werk Nünchritz. Nach seiner Gründung 1900 als Werk Weißig der Chemischen Fabrik von Heyden firmierte es in Zeiten der DDR zunächst als VEB Schwefelsäure und Ätznatronwerk und später, den Arbeiten von Richard Müller folgend, als VEB Chemiewerk Nünchritz. Nach der Wende wurde das Werk 1990 zunächst von der Hüls AG übernommen, die es aber schon 1998 an die Wacker Chemie weiterverkaufte. Seither wurde kontinuierlich in den Ausbau des Standortes investiert, sodass Nünchritz heute nach Burghausen den zweiten großen WACKER-Standort in Deutschland bildet.
Im Unterschied zu Burghausen verfügt Nünchritz allerdings über keine eigene Chlorerzeugung. Das hochreaktive Chlor wird zur Herstellung von Chlorsilanen benötigt – Zwischenprodukten bei der Siliconherstellung, deren Chlor anschließend aus dem Prozess ausgeschleust und wiederverwendet wird. Jedes Chloratom durchläuft vielfach diesen Produktionskreislauf. In Burghausen wird Chlor mittels der Elektrolyse von Steinsalz hergestellt, das aus dem konzerneigenen Salzbergwerk Stetten stammt. Nünchritz – ohne eigene Salz- und damit Chlorversorgung – bezieht chlorhaltige Zwischenprodukte aus Burghausen, um so die Verluste zu ersetzen, die auch in einer hervorragend aufgestellten Verbundproduktion unweigerlich anfallen.
Die grundlegende Silansynthese nach Müller-Rochow
Das Tor zur industriellen Großchemie war den Silanen und Siliconen bereits im Jahr 1942 aufgestoßen worden: Mitten im Zweiten Weltkrieg entwickelten völlig unabhängig voneinander der US-Amerikaner Eugene Rochow und der Deutsche Richard Müller ein Verfahren, mit dem es möglich wurde, direkt aus festem, pulverförmigem Silicium und gasförmigem Chlormethan flüssiges Dimethyldichlorsilan zu erzeugen. Bildlich gesprochen, lässt sich dieses Silan als grundlegender LEGO®-Baustein verstehen, aus dem Tausende von siliciumorganischen Verbindungen systematisch aufgebaut werden können.
Eugene Rochow arbeitete damals für die General Electric in Schenectady, New York und Richard Müller, von seinen Mitarbeitern liebevoll „Kiesel-Richard“ genannt, in der Chemischen Fabrik von Heyden in Radebeul. Zu dieser Fabrik gehörte übrigens das Werk Weißig, in dem ab 1953 die von Müller und seinem Team konzipierte Siliconproduktion der DDR aufgenommen wurde. Heute ist dieses Werk bekannt als Werk Nünchritz und ist seit 1998 einer der größten Siliconstandorte der Wacker Chemie AG.
Auch heute noch, nach 80 Jahren, gibt es weltweit kein anderes Verfahren als die Direktsynthese nach Müller-Rochow, mit dem Dimethyldichlorsilan und daraus die Silicone kommerziell verwertbar hergestellt werden können. Bedenkt man den breiten Einfluss der Silicone, die wegen ihrer einzigartigen Eigenschaften aus unzähligen Anwendungen des täglichen Lebens nicht mehr wegzudenken sind, verwundert es, dass den beiden Erfindern niemals der Chemie-Nobelpreis zugesprochen wurde. Eine späte Ehrung wurde ihnen 1992 zuteil: Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums ihrer Synthese wurde ihnen vom damaligen Spartenleiter Silicone, Dr. Stroh, in Burghausen der WACKER-Siliconpreis überreicht. Rochow war damals 83 Jahre alt und Müller 89.
Ein weiterer, wesentlicher Schritt zum Ausbau der Siliconaktivitäten war der Bau des Werks Zhangjiagang in China, wo 2005 die erste Anlage in Betrieb ging. WACKER schloss dort 2006 eine Kooperation mit dem Wettbewerber Dow Corning, um einen der weltweit größten integrierten Produktionsstandorte für Polydimethylsiloxan und pyrogene hochdisperse Kieselsäure zu errichten, der am 18. November 2010 feierlich eingeweiht wurde. Die sogenannte Upstream-Produktion von Vorprodukten – Silanen und Siloxan sowie dem Nebenprodukt pyrogene Kieselsäure – betreiben die beiden Joint-Venture-Partner in Zhangjiagang gemeinsam. Die Downstream-Produktion der Endprodukte – der Silicone – findet dann jeweils unter alleiniger Regie von WACKER und Dow Corning statt.
Im harmonischen Dreiklang erzeugen die Anlagen in Burghausen, Nünchritz und Zhangjiagang Dimethyldichlorsilan als Basis für alle Silicone – und das immer noch nach dem mittlerweile 80 Jahre alten Müller-Rochow-Verfahren. Mitte der 1990er-Jahre hatte Prof. Eugene Rochow während eines Symposiums für siliciumorganische Chemie im polnischen Posen die jungen Chemiker dort lächelnd aufgefordert, doch endlich etwas Besseres zu erfinden als seine uralte Müller-Rochow-Synthese – es ist bis heute nicht gelungen.
Warum WACKER Sand schmilzt
Auch rückwärts integrierte sich die Wacker Chemie AG. Silicium als Rohstoff wird ja nicht nur bei WACKER SILICONES gebraucht, auch und gerade für WACKER POLYSILICON ist die Verfügbarkeit des Halbmetalls essenziell. Insgesamt beruhen circa 80 Prozent des aktuellen Umsatzes bei WACKER auf siliciumhaltigen Produkten. Daher war es eine vorausschauende Entscheidung, sich die Rohstoffbasis durch eine eigene Produktion zu sichern.
Dazu erwarb WACKER im Jahr 2010 einen Standort im norwegischen Holla. In großen Öfen wird dort aus Quarz und Kohle Siliciummetall erzeugt. Silicium ist zwar das zweithäufigste Element in der Erdkruste nach Sauerstoff. Wegen seiner Affinität zu eben diesem Sauerstoff kommt es aber nirgendwo elementar vor, sondern überwiegend als Siliciumdioxid (SiO₂) – also als Quarzsand beziehungsweise Quarz. Von Beginn an konnte Holla etwa ein Drittel des WACKER-Bedarfs an Rohsilicium decken und es wird beständig daran gearbeitet, diese Kapazitäten weiter auszubauen.
16 Produktionsstandorte für Silicone garantieren unsere Nähe zum Kunden.
Mit ihren einzigartigen Eigenschaften, die kein anderer Kunststoff in dieser Vielfalt erreicht, finden sich Siliconöle, -harze und -kautschuke in den unterschiedlichsten Anwendungen – in Lippenstiften und im Babyschnuller ebenso wie als hochwertige Vergussmasse in den Batterien von Elektroautos. Silicone dienen als Isolatoren in der Hochspannungstechnik und als optische Linse von LED-Leuchten. Im Bad und in der Küche sorgen sie seit Langem als Fugendichtstoff dafür, dass kein Wasser hinter die Fliesen dringt. Kaum eine Industrie kann heute noch auf Silicone verzichten. Die Endprodukte, die vor 75 Jahren in einer Baracke in Burghausen entwickelt wurden, sie sind aus unserer modernen Welt nicht mehr wegzudenken. Somit traf bereits damals auf die Silicone das aktuelle Purpose-Statement von WACKER zu: Our solutions make a better world for generations. Dr. Siegfried Nitzsche hätte es gefreut.
75 Jahre Silicone
1947 – Startschuss: Beginn der Arbeit an Silanen und Siliconen
1949 – Produktion: Start der Silanproduktion in Burghausen
1951 – Kooperation: Lizenzvertrag mit Dow Corning
1953 – Neue Produkte: Raum- und hochtemperaturvernetzende Silicone (RTV und HTV)
1954 – Erster Ausbau: Erweiterung der Siliconbetriebe im Altwerk
1959 – Portfolio: 100 verschiedene Siliconprodukte in Entwicklung
1963 – Erweiterung: Ausbau der Produktion im Werk West
1965 – Hoher Besuch: Bundeskanzler Ludwig Erhard zu Gast in Burghausen
1969 – USA: Beteiligung an der SWS Silicones Corporation (Adrian)
1972 – Investition: Inbetriebnahme der neuen Silandestillation im Werk Nord
1978 – Verbundproduktion: Erste HDK®-Anlage in Burghausen zur Nutzung von Nebenprodukten
1980 – Innovation: Entwicklung von Flüssigsiliconkautschuken (LSR, Liquid Silicone Rubber)
1983 – Wachstum in Asien: Gründung der Wacker Chemicals East Asia
1986 – Nah am Kunden: Baubeginn der Siliconproduktion in Japan
1987 – Auszeichnung: Vergabe des ersten WACKER Silicone Awards
1992 – Schirmherrschaft für die ersten „Silicontage“, heute ein wichtiger Branchentreff
1998 – Neue Standorte: Kauf des Standorts Nünchritz und Gründung eines Standorts in Indien
1999 – Asien im Fokus: Joint Venture Wacker Asahikasei Silicone Ltd. (Japan)
2004 – Premiere in China: Eine Anlage für Siliconemulsionen nimmt den Betrieb in Shanghai auf – erstmalig produziert WACKER Silicone in China
2006 – Joint Venture: Spatenstich für den gemeinsamen Standort von WACKER und Dow Corning in China
2008 – Osteuropa: Produktionsanlage für fertig angemischte SILMIX® Silicone in Tschechien
2010 – Wichtige Investitionen: Eine Anlage zur Herstellung von Siliciummetall wird in Norwegen erworben und Lucky Silicones in Südkorea
2017 – Forschung: Laborkomplex für die Entwicklung innovativer Silicone (Ann Arbor, USA)
2022 – Effizienz: Neue Destillationskolonne im Burghauser Siloxanverbund