Blick in die Produktion: Silicone sind das Erfolgsgeheimnis der ansprechenden Brustprothesen von Newteam Medical.

Siliconkautschuk

19.10.2022 Lesezeit: ca. MinutenMinute

Personalisierte Prothesen

Das Start-up Newteam Medical aus dem südfranzösischen Toulouse stellt Brustprothesen aus Siliconkautschuk her, die individuell der Anatomie ihrer Trägerin angepasst werden. Sie wirken verblüffend echt und geben Krebspatientinnen damit einen Teil ihrer Lebensqualität zurück.

Wohin? Zu Newteam Medical? Ganz hinten links, die vorletzte Türe!“ Der Hausmeister hinter dem haushohen Gitterzaun hält das Tor auf und weist mit dem Arm den Weg einmal quer durch mehrere nüchterne Bürogebäude und Lagerhäuser. Das Industriegebiet Saint-Jory, rund eine halbe Stunde Fahrzeit von der südfranzösischen Stadt Toulouse, atmet den Geist der Zweckmäßigkeit: Die sehr funktionale Umgebung ist jedoch schnell vergessen, sobald Newteam-Chefin Leonarda Sanchez die Türe aufgerissen hat. Überschäumende Energie und Herzlichkeit strömen von der Südamerikanerin aus, die schwungvoll ihre Besucher willkommen heißt und sich gleich nach dem ersten „Bonjour“ für die bescheidenen Lokalitäten ihrer Firma für externe Brustprothesen entschuldigt. „Wir sind eine ganz kleine Struktur, ein echtes Start-up“, sagt sie und lächelt über das ganze Gesicht.

Brustimplantat wird bearbeitet

Die Grundierung wird auf die leicht transluzente Prothese aufgetupft.

Zehn Jahre Entwicklung

Die Räumlichkeiten sind tatsächlich begrenzt. So sehr, dass die wenigen Mitarbeiter in Schicht arbeiten, weil für alle gleichzeitig kaum genügend Platz wäre. Die Zweckmäßigkeit, die draußen herrscht, findet hier ihre Entsprechung im Kleinen: Ein blank geputzter Metalltisch ist das Zentrum des ersten Raums. Auf ihm liegen eine Waage und ein paar verblüffend echt aussehende Brustprothesen, hier zum Trocknen geparkt, weil der temperierte Trockenschrank nebenan schon voll ist. Unter dem großen Tisch stapeln sich Papiereimer zum Mischen des Silicons, gegenüber im Regal liegen Formen aus Metall – alle fein säuberlich nach Größen sortiert. Etwas wohnlicher wirkt der Raum nebenan, in dem zwei Mitarbeiter konzentriert an ihrer Arbeit sitzen.

Leonarda Sanchez führt aufgeregt durch ihr kleines Reich und schwankt zwischen Mitteilungsfreude und Zurückhaltung aus Angst, versehentlich Unternehmensgeheimnisse zu verraten. Denn in ihren Produkten, die erst seit 2021 auf dem Markt sind, stecken ein Jahrzehnt Recherche und mehrere Patente. Air’avanti, Meavanti und Suitavanti heißen die drei Produktgruppen, die Newteam Medical anbietet und die in vielerlei Hinsicht anders sind als die Standardprothesen am Markt. „Unsere Prothesen sind personalisiert und immer auf dem neuesten Stand der Innovation. Wir haben ein Patent in Frankreich, der EU und sogar eines in den USA. Gleich drei Aspekte an Einzigartigkeit wurden anerkannt“, erklärt die Chefin mit Stolz und Freude über das Erreichte. Dabei begann alles mit einem persönlichen Schicksalsschlag.

Prothesen früher: schwer und unbequem

Sanchez bekam 2010 Schilddrüsenkrebs, ihre Freundin Brustkrebs. Die Konfrontation mit der Krankheit krempelte das Leben der dreifachen Mutter komplett um. Aber während sie den Krebs besiegte, erlitt ihre Freundin eine Mastektomie. Das heißt: Ihr wurde eine Brust abgenommen. „Sie war nicht die Einzige in meinem Bekanntenkreis. Einen so intimen Teil des Körpers zu verlieren, ist unerträglich.“ Sanchez erlebte mit, mit welchen Schwierigkeiten Frauen danach zu kämpfen haben – psychologisch wie auch ganz praktisch mit den handelsüblichen Prothesen. „Die Standardprothesen waren damals noch sehr schwer und verursachten bei den meisten Frauen akute Rückenprobleme bedingt durch das Ungleichgewicht der beiden Brüste. Ganz zu schweigen von den oft falschen Volumina, die auch optisch keine Harmonie erzeugten.“

AIR’AVANTI Prothesen

Diese Prothesen heißen AIR’AVANTI. Sie werden im Tunnel rechts gereinigt. Im nächsten Schritt folgt die Qualitätskontrolle.

Eine AIR’AVANTI Prothese wird von Hand nachgeschliffen

Eine AIR’AVANTI Prothese wird von Hand nachgeschliffen.

Tragekomfort und Ästhetik

Das muss doch besser gehen, sagte sich Leonarda Sanchez und machte sich an die Arbeit – ohne gänzliches Vorwissen in Medizin, Chemie oder Materialkunde. „Ich bin eine Tüftlerin. Mein mathematischer Hintergrund vom Beginn meines Berufslebens hat mir dabei immer geholfen. Gibt es ein Problem, suche ich eine Lösung. Und zwar so lange, bis ich sie habe.“ Drei Jahre lang experimentierte die heute 51-Jährige in ihrer Küche herum. Sie macht erste Tests mit natürlichen Stoffen wie Pflanzen oder Mais und kommt schließlich auf Silicon. „Unsere Produkte müssen den hohen gesundheitsrechtlichen Ansprüchen und Gesetzen entsprechen, die seit 2017 immer schärfer werden. Das kann nur Silicon.“

Aber auch hier ist sie mit den handelsüblichen Produkten nicht zufrieden. Sanchez wird schnell klar: Sie braucht ihre eigene Formel. „Ich habe erst mal Chemiker kontaktiert, weil ich nicht mal wusste, dass man bei Silicon die A- und B-Komponente mischen muss“, amüsiert sie sich rückblickend. Zwar tauscht sich die Firmenchefin noch immer regelmäßig mit Experten aus und arbeitet auch eng mit Kliniken zusammen, aber in den vergangenen zehn Jahren hat sie sich selbst ein großes Know-how angeeignet. War anfangs das Ziel, die Prothesen leichter und im Volumen passend zu machen, gehen heute die Meavanti- und Suitavanti- Prothesen viel weiter: Sie versuchen, die amputierte Brust weitgehend zu imitieren – in Gewicht, Volumen, Form, Hautfarbe, Mamille bis hin zu kleinen Schönheitsmakeln wie Leberflecken, sichtbare Venen und Adern. Die Prothesen werden zudem dem Thorax, also dem Brustkorb, angepasst, sodass maximaler Tragekomfort entsteht.

„Unsere Produkte müssen hohen gesundheitsrechtlichen Ansprüchen entsprechen. Das kann nur Silicon.“

Leonarda Sanchez

Leonarda Sanchez
Farbauswahl

Bei der Personalisierung werden Parameter wie der Hautton und die individuelle Pigmentierung berücksichtigt.

Eigene Software

Um das zu erreichen, sind viele einzelne Schritte notwendig. „Jede Brust hat ihr eigenes Gewicht. Unabhängig von Körbchengröße oder Volumen.“ Newteam Medical nutzt ein eigenes Programm, das auf künstlicher Intelligenz, einem Scanner und einem selbst entwickelten Algorithmus aufbaut, um das Gewicht der Brust zu ermitteln. Die Fehlerquote ist gering: Abweichungen von zehn Gramm sind das Maximum. Die Ersterfassung der Daten erfolgt bei ausgebildeten Vertragspartnern, die anhand eines Pflichtenhefts Gewicht, Form, Volumen und die Hautfarbe bei den Kundinnen erheben. Nach anonymer Übermittlung der Daten an die Zentrale bei Toulouse kann die Produktion starten. Eine Meavanti-Prothese besteht aus mehreren Einzelteilen, die im Laufe der Herstellung zusammengefügt werden. Beim Material verwendet Newteam Medical unter anderem raumtemperaturvernetzende Siliconkautschuke der Marken ELASTOSIL® und SILPURAN® von WACKER.

Geschäftsgeheimnis Silicon

„Ich habe sehr lange experimentiert, um die perfekte Formel zu finden. Jedes Silicon hat andere Eigenschaften. Die beiden WACKER-Silicone, die ich nun verwende, haben Charakteristika, die andere Produzenten nicht liefern können“, erklärt Sanchez, ohne aus Gründen des Know-how-Schutzes weiter ins Detail gehen zu können.

Nur sehr wenige Hersteller beherrschen die aufwändige Bemalung von Siliconen. Newteam Medical hat viele Jahre in die Entwicklung maßgeschneiderter Maltechniken investiert. Im ersten Schritt wird die passende Hautfarbe aus Siliconfarben angemischt. Wegen ihrer geringen Oberflächenspannung können Silicone nur mit speziellen Farben bemalt werden, die wiederum auf Silicon basieren. Um Hautverträglichkeit und Tragekomfort zu gewährleisten, nutzt Newteam Medical nur die besten Farben, die der Markt bietet.

Darüber hinaus beschäftigt Newteam Medical Kunststudierende, die auf realistische Malerei spezialisiert sind, wie Laurent Cartier. Mit der speziellen Maltechnik von Newteam Medical tupft Cartier vorsichtig mit einem Tuch Siliconfarbe auf. Anschließend malt er Äderchen, Venen, Muttermale und die Brustwarze mit dem Pinsel auf. Das Ergebnis gleicht einer echten Brust. Laurent Cartier: „Auf Silicon zu malen, ist ganz anders als auf einer Leinwand. Man muss sehr schnell sein, weil die Farben schnell trocknen. Durch unsere Technik hält die individuelle Bemalung zwei Jahre.“ Ist die Prothese fertig bemalt, wird in die offene Wölbung das für die Kundin passende Gewicht integriert und die Rückseite mit einer Siliconrückwand verschlossen.

10 Minuten brauchen die WACKER-Silicone, die für die MEAVANTI-Prothesen genutzt werden, im Trockenschrank zum Vulkanisieren.

Siliconprothesen vulkanisieren im Trockenschrank

Die Einzelteile der Siliconprothesen vulkanisieren im Trockenschrank.

Leonarda Sanchez

Leonarda Sanchez hat Newteam Medical gegründet. Die Firma setzt auf höchste Qualität und richtet sich an den Bedürfnissen von Brustkrebspatientinnen aus.

Innovationen für besonders empfindliche Haut

Externe Prothesen gibt es als reine Einlage in einen Spezial-BH oder als an der Haut haftende Prothesen. Im letzten Fall wird eine weitere Siliconschicht aufgetragen. „Hier verwenden wir ebenfalls ein Produkt von WACKER. Es ist phänomenal. Es haftet und tut kein bisschen weh, wenn man die Prothese entfernt“, schwärmt die Chefin.

Für Frauen mit besonders empfindlicher Haut und für frisch operierte Frauen, bei denen die Vernarbung noch nicht eingesetzt hat, hat Newteam Medical auch eine Lösung gefunden. Das Modell Airavanti ist ebenfalls aus Silicon, aber hat eine Netzstruktur, die viel Luft an die Haut lässt und die Narbe gar nicht berührt. Auch das ist eine echte Innovation, denn normalerweise können Frauen direkt nach der Mastektomie keine Siliconprothesen tragen. Für Patientinnen, denen gar keine der handelsüblichen Prothesen passen, weil zum Beispiel der Thorax unebenmäßig ist, gibt es sogar Spezialanfertigungen: Sanchez nennt diese Serie von maßgeschneiderten Prothesen Suitavanti.

„Das Feedback der Frauen zeigt, dass sich unsere Mühen lohnen. Manche schreiben, dass sie das erste Mal wieder am Strand waren. Oder, dass sie sich endlich wieder trauen, fotografiert zu werden.“ Mehrere Frauen haben unaufgefordert Bilder ihrer Brust geschickt. Obwohl die Produkte fast dreimal so viel kosten wie Standardprothesen und die Wartezeit für eine Prothese bis zu einem Monat dauern kann, steigt die Nachfrage beständig.

„Was für mich wirklich zählt, sind unsere Kundinnen und die Lebensqualität, die wir ihnen zurückgeben.“

Leonarda Sanchez

Positive Wirkung

Reklamationen gab es bis dato so gut wie keine. Die Garantie auf Produkte von Newteam Medical beträgt zwei Jahre. Noch werden diese Prothesen nicht von den französischen Krankenkassen bezuschusst. Leonarda Sanchez ist aber guter Hoffnung, dass sich das ändert. Zusammen mit IUCT Oncopole Toulouse, einem Krebsinstitut der Universität, hat sie eine Langzeitstudie laufen, die den positiven Impact der personalisierten Prothesen in Bezug auf die Psyche, Tragekomfort und gesundheitliche Aspekte beweisen soll.

Das kleine Unternehmen wächst, schneller als erwartet. Zwei neue Mitarbeiter wurden eingestellt und auch ein Umzug in neuere, größere Räume ist geplant. „Was für mich wirklich zählt, sind unsere Kundinnen und die Lebensqualität, die wir Ihnen zurückgeben“, betont Leonarda Sanchez. „Ich kenne jede Frau, der ich eine Prothese geschickt habe. Wirklich jede einzelne. Alles andere kann warten.“

Farbpalette

Für ein natürliches Hautbild werden die Siliconfarben individuell angemischt.

Kontakt

Mehr Informationen zum Thema erhalten Sie von

Herr Jacky Fromont
Wacker Chimie S.A.S.
+33 478 1760-44
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